DAS DING MIT DEM MYSTERIUM ZEIT

Die Zeit lässt uns nicht schneller laufen, sondern sie erinnert uns daran, dass jeder Schritt zählt

Früher, als wir noch viel weniger Zeit hatten, haben wir davon geträumt, mehr Zeit zu haben. Zeit für lange Reisen, Zeit zu Zweit, Zeit den Tag vergehen lassen zu können, Zeit für Besinnung, Zeit für die Familie, Zeit, sich der verbleibenden Zeit bewusst zu werden, Zeit, Zeit zu genießen.

Das Ding mit dem Mysterium Zeit

Das Ding mit der Zeit ist ein Mysterium. Während wir hier in Portugal auf ein Wetterfenster auf die Weiterfahrt warten, vergeht die Zeit. Zeit, um die Ungeduld in sich zu spüren, Zeit um sich in Geduld zu üben, Zeit eigentlich für alles. Alle Vorarbeiten sind erledigt, der Dieseltank und die Ersatzkanister gefüllt, die Epirb hat ihren ersten Testlauf bestanden, die Lebensmittelvorräte sind schon gut aufgestockt, der Erledigungszettel abgearbeitet. Wir nutzen die Zeit um die Umgebung zu erkunden, machen Ausflüge mit dem öffentlichen Bus, lassen die Tage meist genutzt und manchmal auch ungenutzt vergehen. Wir haben ja Zeit.

Und heute – einem Tag an dem wir gefühlt viel Zeit haben – schleicht sich mir das Thema mit der Zeit in den Kopf. Es will irgendetwas von mir beantwortet haben, will eine Auseinandersetzung, vielleicht auch eine Momentaufnahme, wo wir gerade stehen.

Wie die Zeit vergeht…schon über vier Jahre ist es her, dass uns die politischen Maßnahmen wegen Corona mit einer Vollbremsung ungewollt aus dem Hamsterrad geworfen haben. VIER Jahre – eine lange Zeit, wo ist sie geblieben? Viel ist in diesen vier Jahren passiert, unser Leben hat sich komplett verändert…  – und dann war sie auf einmal da, die Zeit, von der wir immer geträumt, aber natürlich auch schon lange darauf hin gearbeitet haben.

Manchmal ist es gar nicht so einfach, mit einer solchen Fülle von Zeit umzugehen. Die beruflichen Herausforderungen sind vorbei – 30 Jahre unter Volldampf zu arbeiten reicht auch. Und trotzdem ist dieses alte Leben nicht so leicht zu vergessen, aus dem Kopf zu verbannen. Immerhin war man immer gedrängt möglichst erfolgreich zu sein und zu bleiben. Als Selbstständiger hat der tägliche Kampf ums Sein eine ganz andere Bedeutung, er wird zum Lebensinhalt. Oft ist es leichter anzufangen als aufzuhören, dazu kenne ich einige Beispiele. Was kommt als Selbstständiger noch, wenn man die lange Zeit der Anstrengung auf irgend eine Art und Weise gemeistert hat? Weiter arbeiten so lange es geht, weil man ansonsten gar nichts anderes mehr tun kann oder zu versuchen, die Früchte seiner Arbeit zu genießen? Hat man noch genügend Zeit, Energie und Mut um das zu tun, was man sich immer für später aufgehoben hat?

Nun denn, wir haben uns für letzteres entschieden. Dabei spielt das Gefühl für die Zeit eine entscheidende Rolle. Immer wieder wird uns klar, dass es ein besonderes Privileg ist, Herr über seine eigene Zeit zu sein – lange genug haben Andere oder die Umstände das Leben bestimmt. Doch gerade jetzt – in der Zeit mit der vielen Zeit – wird uns klar, dass ein großer Teil des Lebens schon gelebt ist. Dass es nun gilt, jeden neuen Tag zu schätzen, mit den Kräften sorgsam umzugehen und zu versuchen, die schönen Momente zu erkennen und zu genießen. Dass es nicht mehr darum geht, Erfolge zu verbuchen, sondern eher sich zu freuen, dem Leben ab und an noch einen stillen, nur für einen selbst sichtbaren Stern hinzuzufügen.

Wir erleben in unserer Lebensspanne nur eine äußerst kurze Phase von Zeit – eine Maßeinheit, die es in Wirklichkeit vielleicht auch gar nicht gibt. Keiner von uns weiß, was das Morgen oder Übermorgen bringt. Was wird das Resümee sein, wenn die Sanduhr hier abgelaufen ist? Gibt es unerfüllte Wünsche und Träume, die in der Hektik des Lebens und den Erwartungen der Anderen verloren gegangen sind? Ist man mit sich im reinen und zufrieden?

All das sind Fragen, die jeder Mensch für sich selbst beantworten muss. Ich bin auf jeden Fall mit meinem bisherigen Leben und den Entscheidungen, die ich getroffen habe, zufrieden. Und das jetzige Leben auf dem Boot in Abwechslung mit längeren Aufenthalten in der Heimat, passt in diese Zeit.

Wir können und wollen keine Ratschläge erteilen, was man am besten mit dem “Unruhestand” anfängt, wie man Zeit – Geld – Alter – Erfüllung und auch Herausforderung kombiniert und in ein gutes Verhältnis bringt. Aber eines ist gewiss: das Leben kommt meistens anders als man denkt und es ist oft nie zu früh und nicht selten auch oft zu spät, seine Träume in die Tat umzusetzen.

Nimm dir Zeit…

zum Träumen, das ist der Weg zu den Sternen

zum Nachdenken, das ist die Quelle der Klarheit

zum Lachen, das ist die Musik in der Seele

zum Lieben, das ist der Reichtum des Lebens

um freundlich zu sein, das ist das Tor zum Glück

(Irischer Gruß)